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Dialekte und regionale Kultur » Verankerung in der Schule

Defizithypothese und Sprachbarrierendiskussion

Im Jahr 1958 entwickelte der Engländer Basil Bernstein die so genannte Defizithypothese. Diese geht von der Annahme aus „dass der Sprachgebrauch in der Unterschicht weniger variantenreich und demzufolge gegenüber dem Sprachgebrauch der Mittel- und Oberschicht als ‚defizitär‘ zu bezeichnen sei“ (Mediensprache.net, 2020). Durch eine zum Teil verkürzte, unsachgemäße und kritiklose Übertragung der Thesen Bernsteins auf deutsche Sprachverhältnisse entstand in den 1960er und 1970er Jahren eine soziolinguistische Diskussion zum Thema „Dialekt als Sprachbarriere“, als Barriere, die schulische und berufliche Erfolge verhindere (vgl. Zehetner, 1985, 198). Dabei wurde verkannt, dass der Dialekt keinen so genannten restringierten Code darstellt, sondern dass es ein Problem ist, wenn der Dialekt die einzige beherrschte Sprachform ist (vgl. Blaß, 2016).

Folgen der Sprachbarrierendiskussion

Die Auseinandersetzung mit den Thesen Basil Bernsteins in Form der Sprachbarrierendiskussion zog eine zweigleisige Entwicklung nach sich: Zum einen wurde der Dialekt verstärkt zu einem Forschungsthema und zum anderen wurden viele Eltern in der Form beeinflusst, dass sie ihre Kinder nicht mehr im Dialekt erziehen wollten (vgl. Hochholzer, 22015a, 80 und 22015b, 67, sowie Zehetner, 1985, 198–199). Dies führte dazu, dass sich die Schule insgesamt bis heute mit einer einheitlichen Linie in Bezug auf den Stellenwert des Dialekts im Schul- und Unterrichtsalltag schwertut (vgl. Arzberger, 2008).

Parallel dazu machte sich auf bestimmten Gebieten eine Bewegung breit, für die das Schlagwort „Dialektrenaissance“ geprägt wurde. Darunter versteht man ein neues Interesse an den Mundarten sowie ihre Wiederkehr und Neubelebung. Die Film-, Musik- und Literaturbranche, die Werbung sowie bestimmte gesellschaftliche und politische Strömungen setzten den Dialekt gezielt für ihre Zwecke ein (vgl. Zehetner, 1979, 156), indem zum Beispiel das Singen im Dialekt als Mittel der Herstellung von Gemeinschaftsgefühl zu einem Akt der politischen Solidarität wurde (vgl. Schormann, 2004, 125).

Wenn auch die Dialektwelle der siebziger Jahre nicht zu einem verstärkten Alltagsgebrauch der Mundarten führte, so entstand – vor allem im Süden der Republik – zumindest ein öffentliches Bewusstsein, in dessen Umfeld sowohl eine größere Aufmerksamkeit und Toleranz als auch eine entsprechende Wertschätzung dialektalem Sprechen gegenüber festzustellen waren (vgl. Löffler, 22000, 2040).

Trotz des Ansehens und der Geltung, die der Dialekt gewonnen hatte, nahm in der Folgezeit auch in Bayern die Zahl der aktiven Dialektsprechenden deutlich ab, so dass in diesem Zusammenhang in Bezug auf das Bairische schon von einem „gefährdete[n] Sprachbiotop“ (Zehetner, 42014, 20) gesprochen wird. Dieser Befund ist vor allem in den Ballungszentren festzustellen, in denen die Mundarten in vielen Bereichen überhaupt keine Rolle mehr spielen (vgl. Stör, 1999), und hat – im Kontext des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels – vielfältige Gründe: Globalisierung, Migration, Mobilität, Fluktuation, Urbanisierung, Bildungsniveau, Medien etc. Zugleich kann man eine allmähliche Veränderung der Dialektlandschaften in Form eines Umbauprozesses hin zu großräumigeren Ausgleichssprachen, den Regiolekten, beobachten. Diese Gesamtentwicklung hat, was die Dialektkompetenz betrifft, zu einem starken Gefälle zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt geführt.

Verfasser: Dr. Ludwig Schießl